Im Angesicht einer Mörderin
Am 11. September 1852 trifft das Richtschwert den Hals von Henriette Rehn aus Markersbach. Zwei Heimatforscher entdecken ihre Story. Und ihren Kopf.
Von JÖRG STOCK, erschienen in der Sächsischen Zeitung am 14. Februar 2023
Wer da glaubt, die Gesichtszüge eines Menschen könnten dessen Charakter verraten, der wird vom Antlitz Henriette Rehns eines Besseren belehrt. Schön geschnitten ist es, wirklich ebenmäßig und friedvoll, so als sei sie mit sich und der Welt im Reinen. Und doch ist es das Antlitz einer Frau, die ihr Kind grausam umbrachte und die, als der Abdruck ihres Gesichts verfertigt wurde, bereits den Kopf durch das Richtschwert verloren hat.
Der Fall der Kindsmörderin Henriette Rehn aus Markersbach sticht heraus aus Sachsens Kriminalgeschichte. Ihre Exekution am Morgen des 11. September 1852 auf dem Dresdner Alaun-Platz war die letzte im Land, die öffentlich mit dem Schwert ausgeführt wurde. Das Schauspiel, durch Missgeschick des Henkers allzu blutig geraten, erzeugte eine Schockwelle. Mehr als fünfzig Jahre wurde die Todesstrafe für Frauen nicht mehr angewandt. Danach schwenkte man auf die Technik des Fallbeils um.
Marco Schröder kann es noch immer kaum glauben, dass er der Erste sein soll, der nach 170 Jahren den aufsehenerregenden Mord- und Justizfall der Henriette Rehn ans Licht gezogen und darüber ein Buch geschrieben hat. Doch so wird es wohl sein. Sämtliche Akten hätten quasi unberührt im Sächsischen Staatsarchiv gelagert, sagt er. Das grenzt fast an ein Wunder. Ein Wunder ist es nicht, dass ausgerechnet Marco Schröder die Sache in die Hand nahm. Der 43-Jährige ist Geschichtslehrer und stammt aus Markersbach, jenem Waldhufendorf, das nicht so recht weiß, ob es noch Sächsische Schweiz ist oder bereits Osterzgebirge. Mehr als dreihundert Jahre lebt Schröders Familie schon im Ort. Seitdem haben sich immer wieder persönliche Verbindungen auch zur Familie Henriette Rehns ergeben.
"Dass schwanger zu sein scheitern bedeutet, hat Henriette Rehns Leben geprägt. Aber das ging nicht nur ihr so. Sie war kein Einzelfall."
- Matthias Schildbach -
Neben Geschichte lehrt Marco Schröder Deutsch. Dass er schreiben kann, versteht sich. Etwa zwei Dutzend familien- und heimatkundliche Abhandlungen hat er bereits verfasst und in kleinem Rahmen veröffentlicht. Doch er hatte Lust auf mehr. „Die Idee, ein Buch zu schreiben, trug ich schon seit Jahren in meinem Kopf“, sagt er. Der Fall Rehn, der anekdotenhaft noch immer in Markersbach herumgeistert, schien der passende Stoff zu sein. Den letzten Anstoß zum Projekt gab ihm ein Heimatforscherkollege: Matthias Schildbach, der gelernte Buchhändler aus Kreischa, hatte bereits einen Namen als „Bombensucher“. Er folgte der Spur abgestürzter US-Bomberflugzeuge des Zweiten Weltkriegs und hatte zwei Bücher darüber verfasst, wofür er 2019 den Sächsischen Landespreis für Heimatforschung erhielt.
Der Selbstverleger Schildbach war genau der, den Marco Schröder als Co-Autor brauchte. Schildbach hatte 2020 einen ähnlichen Fall recherchiert, den der Magd Rosina Heschel, die ihr Neugeborenes auf dem Scheunenboden hatte sterben lassen. Er war sich sicher: Der Fall Rehn, grauenhafter und folgenreicher als die Causa Heschel, würde die Leser umso mehr fesseln. „Wenn Marco das Buch nicht geschrieben hätte“, sagt Schildbach, „hätte ich es getan.“
Nun haben sie es beide getan: Marco Schröder, der Perfektionist, durchforstete die Justizakten und schrieb das Manuskript. Mehr als achtzig Prozent der 270 Buchseiten, sagt er, stützen sich auf greifbare Quellen. Matthias Schildbach, der sich als Macher sieht, reiste übers Land, suchte Schauplätze, Fotos, alte Landkarten. Und er entdeckte die Totenmaske selbst - in Gips. Schildbach hatte gehört, dass an der Dresdner Chirurgisch-medizinischen Akademie, wohin man damals die Leichname Hingerichteter zu Studienzwecken schaffte, auch Totenmasken gefertigt wurden. Ins Blaue hinein schrieb er an die Erbin des Institutes, die Uniklinik, ob in der Sammlung eventuell die Mörderin Rehn vorhanden wäre. Die Chancen hielt er für gleich null. Doch die Büste existierte tatsächlich, nunmehr in der Anatomischen Lehrsammlung der Uni Leipzig. Eine Sternstunde für den Heimatforscher. „Das war genial!“
„Woher der Drang kam, sich jetzt mit diesem Schicksal zu befassen, kann ich gar nicht genau sagen. Die Zeit war einfach reif dafür.“
- Marco Schröder -
Johanna Christiane Henriette Rehn kommt im Februar 1822 als ältestes von drei Kindern eines Zimmerermeisters und einer Dienstmagd in Markersbach zur Welt. Die Verhältnisse sind ärmlich und werden schier katastrophal, als der Vater und Ernährer - Henriette ist kaum sieben Jahre alt - plötzlich stirbt. Die Mutter, von Schulden gedrückt, muss das Haus verkaufen und sich als „Leichenfrau“ verdingen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Henriette war bereits mit zwölf mehr oder weniger ganz eingebunden in den Broterwerb für die Familie. Als 16-Jährige verließ sie Markersbach, um als Magd in der Landwirtschaft ein eigenes Leben zu beginnen. Doch schon im ersten Dienstjahr schwängerte sie ein Knecht. Auf zwei weiteren Arbeitsstellen wurde sie von den Söhnen der Hofbesitzer schwanger. Ihre Hoffnungen, geheiratet zu werden, die Kinder zu legitimieren und sich selbst einen bescheidenen Wohlstand zu verschaffen, zerschlugen sich. Schwangerschaft, so erfuhr sie, führte immer wieder zum Verlust der Stellung und zur gesellschaftlichen Ächtung. Und das, so denkt Matthias Schildbach, hat die Hartherzigkeit Henriettes gegen ihre Kinder befördert. Doch als Ausweg einen Mord zu verüben? „Das ist für mich nicht nachvollziehbar.
Als Henriette, inzwischen Schankmagd in Dresden, mit einem Soldaten des königlichen Schützenregiments Prinz Georg bekannt wird und einmal mehr auf einen Antrag hofft, sieht sie ihre uneheliche Tochter Amalie als letztes Hindernis auf dem Weg zum Glück. Am Abend des 4. Mai 1852 stößt sie das zweijährige Mädchen im Dämmerlicht eines Hinterhofs ins Plumpsklo, wo es qualvoll an den Fäkalien erstickt. Schon tags darauf beginnt das Verbrechen aufgedeckt zu werden, weil die gütige Greisin, in deren Obhut die Kleine zuletzt lebte, misstrauisch wird. Am 5. Mai folgt Henriettes Verhaftung, am 12. Mai ihr Geständnis. Die Todesstrafe ist unausweichlich, entscheiden alle Instanzen, bis hinauf zum König. So kommt es zu den abscheulichen Szenen auf dem Richtplatz. Weil er schlecht trifft, muss der Scharfrichter noch zweimal auf die am Boden Liegende einschlagen, bis das Haupt vollends abgetrennt ist.
Juristisch betrachtet, war Henriette schuldig. Marco Schröder aber sagt, dass die Täterin auch ein Opfer war. Opfer der Verhältnisse, Opfer ihrer unerfüllten Wünsche und zerstörten Hoffnungen. Opfer vielleicht auch einer seelischen Erkrankung? Der Verteidiger hatte das ins Feld geführt, jedoch vergebens. „Die Justiz nahm das nicht weiter ernst“, sagt Matthias Schildbach. Mutmaßungen in dieser Frage vermeiden die Autoren. „Wir betreiben keine Psychoanalyse“, sagt Schildbach. „Wir erzählen einen Kriminalfall.“