Der SS-Mann, der den amerikanischen Bomberpiloten erschoss
Im April 1945 geschah ein Kriegsverbrechen in Reinhardtsgrimma bei Dresden. Angehörige des Opfers und des Mörders begegnen sich nun 77 Jahre später am Tatort.
Von MATTHIAS SCHILDBACH, erschienen in der Sächsischen Zeitung am 11. Juli 2022
Es war ein Unfall zu Zeiten des Krieges, so schilderte es 2018 SZ-Reporter Jörn Stock. Die Kollision zweier US-Bomber am 17. April 1945 über dem Gebiet der Dippoldiswalder Heide südlich von Dresden sollte fast 80 Jahre nach Kriegsende zwei Familien zusammenführen. Dass sich noch 2022 die Staatsanwaltschaft mit dem Fall beschäftigen würde, überraschte nicht nur mich, den Autor des Buches „Mid Air Collision“, der den Absturz bis ins Detail aufgearbeitet hatte, sondern vor allem eine bis dahin Familie in Dresden-Cossebaude.
Der „vergessene Angriff“
Dienstag, 17. April 1945. Angriffsalarm in Dresden. Es sollte der bislang stärkste Angriff auf die bereits geschundene Stadt sein. Mehrere Hundert B-17-Bomber, sogenannte „Fliegende Festungen“, sind aus Richtung Südwest im Anflug auf die Stadt. Um 13.48 Uhr beginnt der Bombenhagel auf den Verschiebebahnhof Dresden-Friedrichstadt. Was die Deutschen am Boden nicht bemerken: Im Bomberverband herrschen Hektik und Nervosität. Einige Bombergruppen können das Ziel durch den immer dichter werdenden Wolkenschleier nicht sehen. Über Bordfunk wird den nachfolgenden Bomberstaffeln befohlen, den Zielanflug abzubrechen und eine 360-Grad-Wende nach Osten zu vollführen. Ein halsbrecherischer, waghalsiger Befehl
Die 92. Bombergruppe sieht noch vor Erreichen des Zieles nach rechts aus dem Verband aus. Das Manöver geht schief, eine Maschine nähert sich einer über ihr fliegenden viel zu nah an. Die Propeller der oberen zerschreddern den Rumpf der unteren. In Sekundenbruchteilen explodiert ein Bomber, der andere trudelt nach unten – sie verschwinden in den Wolken.
Die Deutschen am Boden beobachten von vielerlei Standpunkten im Osterzgebirgsvorland, wie die Trümmer zu Boden regnen. Vor allem Jugendliche sind es, die die Neugier nach draußen treibt – sie werden sieben Jahrzehnte später zu wichtigen Zeitzeugen.
Stoff für ein Buch
Der Luftkriegshistoriker Horst Giegling aus Geising hatte seit den Neunzigerjahren geforscht, die Maschinen und Besatzungen identifiziert. Ich griff das Thema als Heimatforscher auf und begann in der Umgebung Zeitzeugenbefragungen durchzuführen. Als der Kampfmittelräumdienst 2013 die erste Fliegerbombe in der Dippoldiswalder Heide fand, wurde die Suche nach den verbliebenen Bomben intensiviert. Das Ganze gipfelte im November 2013 in Sachsens größter Bergungsaktion, der Entschärfung von elf Fliegerbomben an einem Tag. Das mediale Interesse war überwältigend, noch heute erinnern sich viele an die Berichte und die umfangreichen Sperrungen im ganzen Gebiet um die Dippoldiswalder Heide.
Dem Copilot Lieutenant Nathaniel Shane war es gelungen, aus dem explodierenden Bomber mit dem Fallschirm abzuspringen. Bei Reinhardtsgrimma landete er auf offenem Feld. Verletzt und umringt von Einwohnern entspann sich eine Szene, in der ein hysterischer Hilfspolizist die Umstehenden aufforderte, den Amerikaner zu erschießen. Sie verweigerten sich. Ein hinzukommender SS-Mann wurde schließlich zum Mörder.
2017 gelang es mir, Kontakt zur Familie Lieutenant Shanes herzustellen. Im Mai 2018 besuchte dessen Neffe Larry Shane aus Florida unsere Region. Der Tag, an dem wir gemeinsam den 17. April 1945 nachvollzogen, die Absturzstelle besuchten und uns mit Reinhardtsgrimmaer Einwohnern am Tatort trafen, war ein unbeschreiblich emotionaler Höhepunkt. So entstand das Buch „Mid Air Collision – zwei Bomberabstürze im Süden Dresdens, ein ungeahntes Kriegsverbrechen und Sachsens größte Bergungsaktion“. Im Jahr darauf wurde es mit dem Sächsischen Landespreis für Heimatgeschichte ausgezeichnet.
Verhöre zu DDR-Zeite
Das Rätsel um die Identität des Mörders, des unbekannten „SS-Manns“, blieb bestehen. Nach Kriegsende begannen die damaligen Schutzorgane, Ermittlungen anzustellen. Bis in die fünfziger Jahre wurden immer wieder in Reinhardtsgrimma polizeiliche Verhöre durchgeführt; keiner der Zeugen konnte – oder wollte – sich an den Namen des Mörders erinnern.
Erst im Sommer 2021 hatte ich den Auftrag, Akten im Staatsarchiv Dresden auf Dokumente zu Kampfmittelfunden in der Umgebung der Dippoldiswalder Heide zu sichten. Es waren tausende Seiten, die ich mühsam durchblättern musste. Und da, auf der zig-hundertsten Seite, ganz unten rechts, las ich den winzigen dreizeiligen Hinweis, fast nur eine Randnotiz:
„Der unbekannte SS-Mann, der am 17.04.1945 den Amerikaner bei Reinhardtsgrimma erschoss, war der Bruder der in Hirschbach bediensteten … Neumann, Wirtschaftergehilfin, geboren am … in Steinbach bei Meißen ...“
Was ich hier fand, würde nicht nur die Klärung einer Identität sein. Mir war mit einem Male bewusst, dass diese Information noch eine ganz andere Tragweite haben würde. Der nächste Rechercheschritt war, den Geburtsort „Steinbach bei Meißen“ ausfindig zu machen. Im Dresdner Nordwesten gibt es vielfach den Ort Steinbach. Vom Blickpunkt Reinhardtsgrimma aus jedoch, von wo aus der Hinweisgeber aussagte, kam nur eines in Frage: Steinbach, Ortsteil der Gemeinde Reinsberg im Landkreis Mittelsachsen.
Der SS-Mann wird identifiziert
Im Taufbuch des Jahres 1926 tauchte er auf, als einziger Bruder einer Schwester: Ernst Rudolf Neumann. Der Name eines Mörders. Als er seine Tat beging, war er gerade 18 Jahre alt. Dass er eine SS-Uniform trug und am Tatort resolut auftrat, hatte gereicht, alle Umstehenden derart einzuschüchtern, dass es keiner wagte, ihn in seinem Tun zu hemmen.
Welche Gedanken mir durch den Kopf gingen, als ich vom Pfarramt Reinsberg nach Hause fuhr, sind mir eindrücklich in Erinnerung geblieben. Nicht alle Tage wird man als Heimatforscher zum Aufklärer eines Mordfalles, wird man mit dem Wissen um die Identität eines Mörders konfrontiert. Das Gespräch am Abend mit meiner Frau war sehr lebhaft. Das Gesetz sieht hier unmissverständlich die Pflicht zur Anzeige vor. Auch nach 76 Jahren. Dabei hatte mich nun meine „Schnüffelei“ gebracht, dass ich eine solche Entscheidung treffen musste. In welches Wespennest würde man wohl stechen? Würde ich oder meine Familie angefeindet werden? Würde ein 95-Jähriger vor Gericht kommen, so er denn noch am Leben sei? Am 2. August 2021 erstattete ich Anzeige wegen Mordes bei der Staatsanwaltschaft Dresden.
Dass sich die Staatsanwaltschaft Dresden noch heute mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen muss, kommt etwa ein bis zwei Mal im Jahr vor. Nicht immer handelt es sich dabei um Tötungsdelikte. Meist sind es Knochenfunde von Kriegsopfern, bei denen zu prüfen ist, ob eine verfolgbares Straftat vorliegt.
Im Fall Neumann begannen die Ermittlungen auf der Grundlage des Buches „Mid Air Collision“. Ernst Rudolf Neumann war Freiwilliger der Waffen-SS. Im März 1945 hatte sich der Unteroffiziersanwärter den linken Unterarm gebrochen. Nach einem Lazarett-Aufenthalt bekam er Heimaturlaub, er besuchte seine Schwester in Hirschbach. Hier wurde er Zeuge der Fallschirmlandung Lieutenant Shanes. Nach dem Mord verließ Neumann den Tatort Richtung Hirschbach. Noch am selben Tag verschwanden beide Geschwister, ohne sich abzumelden.
Über die Geburtsurkunde im Standesamt gelangte die Staatsanwaltschaft rasch zur Meldung von Neumanns Tod: Er verstarb 2015 in der Schweiz. Damit war eine Voraussetzung für eine Anklage wegen Mordes nicht mehr gegeben. Hätte Neumann die sechs Jahre überlebt bis zur Anzeige gegen ihn, ihm wäre mit Sicherheit der Prozess gemacht worden. Hier, in Dresden, wäre Anklage wegen Mordes erhoben worden. Der eigene Tod hat ihn vor der Übernahme der Verantwortung bewahrt.
Doch eine Spur zu Verwandten im Raum Dresden konnte gefunden werden. Der hochbetagte Schwager Neumanns, Herbert Grohmann, sowie dessen Schwiegersohn Joachim Schöffer konnten ausfindig gemacht werden.
Die Spur zur Familie des Mörders
Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen wurde Joachim Schöffer als Angehöriger des Mörders Neumann vom ermittelnden Kriminalkommissar befragt. Die Konfrontation mit einem Mord, einem Kriegsverbrechen, den der Onkel seiner Frau verübt haben soll, erschütterte nicht nur Schöffer. Seine schwere Aufgabe war es, Herbert Grohmann über den Vorfall zu informieren.
Schöffer bat um Einsicht in das Buch. Daraufhin bat er die Familie des Mordopfers, Larry Shane, um ein Gespräch. Am 17. April 2022, exakt 77 Jahre nach dem Mord, trafen sie sich in Reinhardtsgrimma. Die Begegnung und das Gespräch der Nachfahren des Opfers und des Mörders waren von respektvollem, friedlichem Charakter. Ein Mord war aufgeklärt, einer Geschichte das Ende gegeben.
Die Bedeutung dieses Treffens ist schwer zu übertreiben. Es ist ein historisches Ereignis, das uns daran erinnert, dass selbst die schrecklichsten Ereignisse der Geschichte eine menschliche Dimension haben und dass Versöhnung und Aufklärung möglich sind.
Herzlichen Dank für diesen Tag mit Ihnen und Larry Shane.
*Namen Redaktionell geändert