Der Mann, der vom Himmel fiel
Beim Angriff auf Dresden 1945 muss ein US-Pilot abspringen und wird kaltblütig ermordet. Ein Hobbyhistoriker erforscht die ganze Geschichte – und trifft den Neffen des Opfers.
Von JÖRG STOCK, erschienen in der Sächsischen Zeitung vom 31. Mai 2018
Eben war er noch Angreifer, Teil einer gewaltigen Streitmacht, unbesiegbar. Doch jetzt, nur ein paar Herzschläge später, baumelt Norman Shane, First Lieutenant der United States Army Air Force, mutterseelenallein an einem Fallschirm über Feindesland. Er hat keine Ahnung, warum sein Bomber, eine B-17 „Flying Fortress“, so jäh zerbarst. Er denkt wahrscheinlich auch nicht darüber nach. Wahrscheinlich sind seine Gedanken daheim, in der New Yorker Vorstadt, bei Beatrice, seiner Frau, und bei dem Kind, das sie unterm Herzen trägt. Er wird es nie im Arm halten. Am Schirm, der ihn gerettet hat, fällt Norman Shane seinem Mörder entgegen.
73 Jahre später steht Larry Shane, 51, Immobilienkaufmann aus Miami, Florida, der Hauptstadt von Sonne und Spaß, wie er sagt, südlich von Dresden mitten im Busch. Es ist die Dippoldiswalder Heide, der Wald, in den im April 1945 das Bombenflugzeug seines Onkels Norman einschlug. Neben Larry steht Matthias Schildbach, ein drahtiger Vierziger, gelernter Buchhändler, Freizeithistoriker aus Lungkwitz bei Kreischa. Der Bomberabsturz über der Heide ist sein Thema, seine Passion. Vier fette Ordner Material hat er in 17 Jahren gesammelt und geschätzte 300 Kilogramm Flugzeugschrott. Und er hat Larry gefunden. Heute nimmt er ihn mit auf eine Zeitreise, ans Ende des Zweiten Weltkriegs.
Am 17. April 1945 greift die 1. US-Luftdivision den Verschiebebahnhof in Dresden-Friedrichstadt an. Lieutenant Shanes Fliegende Festung schwimmt mit in dem gigantischen Strom aus über 500 Maschinen. Fast am Ziel wird eine 360-Grad-Schraube befohlen, um im Sinkflug durch die Wolken zu stoßen. Da geschieht das Unglück: Das Flugzeug von First Lieutenant John W. Paul Jr., in dessen Kanzel Norman Shane als Copilot sitzt, stößt mit der Maschine von Kommandant Arthur H. Huether zusammen, die über ihm fliegt. Die beiden Bomber zersäbeln sich gegenseitig mit ihren Rotoren und ziehen, niederstürzend, eine kilometerlange Spur feuriger Trümmer durch die Dippser Heide.
Larry, braungebrannt, breites Kreuz, geht sachte durch den Wald, so als fürchte er, etwas kaputt zu treten. „Sacred ground“, sagt er, heiliger Boden. Er stellt sich die Bilder vor, die Matthias Schildbach ihm beschrieben hat, das Chaos, die Brände, die Leichen, die an Fallschirmen von den Bäumen hängen oder zerschmettert am Boden liegen. Einige der Flieger sind kohlrabenschwarz vom Feuer, sodass die ersten Ankömmlinge am Absturzort glauben, es handele sich um „Neger“. Jugendliche suchen bei den Toten nach Schokolade. Larry seufzt: „Verzweifelte Zeiten.“
Matthias Schildbach kennt das Terrain genau. Unzählige Male war er hier, und er hat ein Auge für die kleinen Zeugen der Katastrophe. Er findet sie, sagt er, wie andere Champignons in der Saison. Schon pult er etwas aus dem Boden, das aussieht wie Christbaumlametta. Es sind Düppelstreifen, reflektierendes Stanniol, abgeworfen von den Bombern, um das deutsche Radar zu stören. Larry staunt: „That’s great.“ Und es geht weiter: Plexiglas aus der Kanzel, Keramik aus der Bordelektrik, Metallplättchen aus der Splitterschutzweste, ein Druckknopf von der Uniform. Beschriftung: Boston, Massachusetts. Und überall Tropfen geschmolzenen Aluminiums. Ein höllisches Feuer muss hier gewütet haben, sinniert Matthias Schildbach. „Verdammt noch mal, unglaublich“, sagt Larry. Die Funde legt er behutsam in eine Plastiktüte. Einen großen gelben Glassplitter findet er besonders „incredible“. Vielleicht von einem Positionslicht, sagt Schildbach. Larry kann ihn sich gut als Anhänger an einer Halskette vorstellen, zum Andenken.
Lieutenant Shane landete nicht in der Heide. Sein Schirm trug ihn etwa fünf Kilometer nach Südosten, an den Saum Reinhardtsgrimmas. Auf einer schön gestutzten Wiese, dem Privatflugplatz des lokalen Schlossbesitzersohns, landete er. Er streifte die bleischwere Ausrüstung ab. Seine Beine waren verletzt, sodass er nicht aufstehen konnte. Also harrte er, am Boden liegend, der Dinge, die kommen würden. Die Heide hinter sich gelassen, führt Matthias Schildbach nun seinen Gast und eine Handvoll Bürger aus dem Ort quer durchs Getreide auf eben diese Stelle zu. Durch das Studium in den Archiven, in Justizakten und Stasi-Papieren hat er den Platz auf etwa hundert Meter genau lokalisiert. Einen Holzpfahl hat er in die steinharte Erde gerammt, kein Kreuz, denn Norman Shane war Jude. Am Pfahl hängt das Foto des lachenden Jungen unter seiner großen Offiziersmütze. Larry filmt. Dann, plötzlich, kann er nicht mehr anders. Er tritt zu Matthias Schildbach, umarmt ihn und beginnt zu weinen. „Thank you, my friend.“ Totenstille wird es auf dem Acker. Nicht nur für Larry ist es ein großer Moment. Es ist auch die Stunde des Matthias Schildbach. Jetzt schließt sich der Kreis seines rastlosen Forschens, der Jahre des Grabens nach Erkenntnissen, des nächtlichen Wühlens im Internet, bei dem er nicht nur Norman Shanes Kommandanten John W. Paul, inzwischen steinalt, in Baltimore, Maryland, aufspürte, sondern auch, im Herbst vorigen Jahres, Larry. „Man glaubt nicht, wer alles bei Facebook ist“, sagt er lächelnd. Und dann schildert er die letzten Minuten im Leben von Norman Shane.
Der Schmied Kurt Köhler, ganz in der Nähe auf seinem Kartoffelfeld beschäftigt, gelangt zuerst bei Shane an. Der hebt sofort die Hände. Er war wohl gewarnt. In Deutschland sind schon Flieger gelyncht worden. Tatsächlich kursierte bereits 1943 ein geheimes Rundschreiben aus Hitlers Hauptquartier, das die „Terrorflieger“ quasi für vogelfrei erklärte und durchblicken ließ, dass Racheakte nicht geahndet würden. Köhler, allenfalls mit einer Kartoffelhacke bewaffnet, macht keine Anstalten, Shane anzugreifen. Da kommt Polizist Koplin angeradelt. Der ist aus anderem Holz. Er tobt, drängt dem Schmied seine Pistole auf, damit der den Amerikaner erschießt. Der Schmied aber sagt nein. Dann erscheint der Reinhardtsgrimmaer Mechanikermeister Walter Kirsten auf der Szene. Aus purer Neugier, die er noch tausendmal verfluchen wird, ist er aufs Motorrad gesprungen. Für alle Fälle – man ist ja im Krieg – steckt ein Revolver in seiner Tasche.
Als Kirsten sich nähert, hört er einen Knall, wohl entstanden beim Ablassen von Sauerstoff aus Shanes Atemmaske. Kirsten vermutet einen Schuss und zieht den Revolver. An Ort und Stelle wird auch er von Koplin aufgefordert, er solle Shane töten. Kirsten denkt nicht daran. Doch behält er die Waffe in seiner Hand. Während der Disput noch andauert, ruft sich ein weiterer Akteur ein. Schmied Köhler wird später in der Vernehmung von dem SS-Mann Neumann aus Mohorn sprechen.
Neumann fordert eine Pistole. Er will, so hört es der Schmied, Rache üben für Vater und Schwester, die durch Bomben starben. Schon hat er Kirstens Revolver ergriffen und schießt sechsmal auf den wehrlosen, um sein Leben flehenden Flieger. Nachdem er die Uhr des Toten geraubt hat, verlässt er den Ort. Auch die anderen zerstreuen sich. Erst als es dunkel ist, trauen sich einige Männer, Shanes Leiche auf einer Sackkarre zum Friedhof zu bringen. Der Mörder wird nie gefunden. Walter Kirsten klagt man bald nach Kriegsende an, wegen Beihilfe zu Shanes Ermordung. Er bereut, dass er dem SS-Mann seine Waffe keineswegs übergeben, sondern dass dieser sie ihm entrissen habe. Tatsächlich lassen sich keine glaubwürdigen Zeugen finden, die bestätigen, dass Kirsten die Waffe freiwillig hergab, wohl aber solche, die sicher bezeugen, dass er die Erschießung des Piloten ablehnte. Bestraft wird Kirsten trotzdem: drei Jahre Zuchthaus und Verlust des Vermögens.
Das Unrecht hat Matthias Schildbach Kirstens Verhängnis: Er war NSDAP-Mitglied und hatte seine Firma wegen der Kriegsaufträge zur Rüstungsindustrie erheblich vergrößern können. Doch er sollte nicht mehr erleben, dass es Menschen gibt, die für die Wahrheit einstehen. 1960 setzte er sich unter den neuen Dorfnazis, Spätheimkehrer, ihren Intrigen aus und beging Selbstmord. Später halbierte man seine Strafe auf zwei Jahre Gefängnis. Da hatte Kirsten jedoch schon drei Jahre in den schlimmsten Verhältnissen Ostdeutschlands gehockt. Seine Rehabilitation 1993 erlebte er nicht mehr.
Larry Shane sitzt in Reinhardtsgrimma auf der Friedhofsmauer. In Sichtweite steht ein steinernes Kreuz. Es ist das Kreuz von Pfarrer Friedrich Hickel, der Larrys Onkel 1945 begrub, sorgsam seine Grabstelle vermerkte und auch die Nummer seiner Erkennungsmarke. So konnten Norman Shanes Kameraden ihn 1947 heimholen. Larry fühlt keine Bitterkeit, keinen Hass. Er fühlt Dankbarkeit. Sagt er, dass er hier sei und dass es damals Leute gab, die seinen Onkel mit Respekt behandelten, nicht wie einen Feind, sondern wie ein menschliches Wesen.