Die Story seines Lebens
Fünfzehn Jahre folgte Matthias Schildbach der Spur abgestürzter Bomber in der Dippser Heide. Nun ist sein Buch fertig.
Von JÖRG STOCK, Erschienen in der Sächsischen Zeitung vom 25. August 2018
Er ist auf dem Weg zur Krönung seines Forschens, das weiß Matthias Schildbach, als er um die Mittagszeit dieses heißen Maitages über einen Acker bei Reinhardtsgrimma stapft. Mit ihm stapfen Einwohner, Presseleute, der Pfarrer, und Larry, Larry Shane aus Miami, Florida, mit Baseballkappe auf dem Kopf und flotten Sprüchen auf der Zunge. Die Prozession strebt dem Platz zu, wo am 17. April 1945 Norman Shane, US-Bomberpilot, Larrys Onkel, notgelandet am Fallschirm, von einem SS-Mann erschossen wurde.
Matthias Schildbach ist Perfektionist. Er hat einen Holzpflock an der Stelle des Mordes ins Getreide gerammt und ein Foto von Norman Shane daran befestigt. Vor dieser Kulisse will er die Vorgänge schildern, die zum Absturz von Shanes Flugzeug führten und zu seinem Tod. Doch Larry kommt ihm dazwischen. Der so salopp wirkende Mann verliert urplötzlich die Fassung. Er umarmt Matthias Schildbach, schluchzt an seiner Schulter: „Thank you, my friend.“ Schildbach muss schlucken. Bei aller Akribie – das konnte er nicht planen. „Das hat mich aus den Socken gehauen.“
Es ist das Verdienst von Matthias Schildbach, dass nach Jahrzehnten des Vergessens und des Verdrängens jemand noch einmal aus tiefstem Herzen um einen Toten des Zweiten Weltkrieges geweint hat. Dass es der Copilot eines Bombenflugzeuges war, der, wenn seine Maschine nicht zerschellt wäre, anderen das Verderben gebracht hätte, lässt Schildbach in diesem Moment beiseite. Im Krieg, einer Zeit der totalen Enthemmung, verschwimmen die Kategorien von Schuld und Unschuld, sagt er. Ihm geht es vor allem um Versöhnung. Und die, da ist er sich sicher, hat an diesem Tag auf dem Acker stattgefunden.
Matthias Schildbach nennt die ganze Sache die „Geschichte seines Lebens“. Tatsächlich hat der 41-Jährige aus Lungkwitz bei Kreischa über fünfzehn Jahre damit zugebracht, sie zu ergründen. Was er herausfand, hat er in ein Buch geschrieben, das jetzt vorliegt. „Mid Air Collision“ heißt es. Der englische Ausdruck steht für einen Zusammenstoß in der Luft. Er passierte am 17. April 1945, als 580 amerikanische Bomber vom Typ B-17 „Flying Fortress“ auf Dresden zusteuerten, um den Friedrichstädter Bahnhof anzugreifen. Bei einem kreisförmigen Sinkflug kollidierten zwei Maschinen der 92. Bombergruppe. Ihre lodernden Trümmer stürzten in die Dippoldiswalder Heide und wurden vom Mantel der Geschichte zugedeckt. Bis Matthias Schildbach sie suchen ging.
Für Geschichtliches hat er sich stets interessiert. Schon als kleiner Junge schaute er sich mit dem Vater gern Burgen und Kirchen an. Beruflich folgte er dieser Vorliebe nicht. Er wurde Buchhändler und dann Ergotherapeut. Privat aber zog es ihn immer wieder in die Vergangenheit. Gemeinsam mit Kreischas legendärer Lokalchronistin Hermine Hofmann kümmerte er sich um die heimatgeschichtliche Abteilung im Gemeindeblatt „Bote vom Wilisch“ und veranstaltete, kostümiert als Preußengeneral Finck, Exkursionen zum Schlachtfeld des Siebenjährigen Krieges bei Maxen.
Getrieben von Gerüchten und vagen Erzählungen begann Matthias Schildbach kurz nach der Jahrtausendwende, Reste abgestürzter Bomber in der Dippoldiswalder Heide zu suchen. Derart große Maschinen mussten Spuren hinterlassen haben, und wären sie auch noch so klein. Und wirklich: Bald fand er erste Wrackteile, Aluminiumfetzen, Plexiglassplitter. Er suchte weiter, stieß auf Uniformknöpfe, Motorenfragmente, Fallschirmseide. Jede Gelegenheit nutzte er fortan, um im Wald „spazieren“ zu gehen. Heute wiegt die Sammlung seiner Fundstücke etwa drei Zentner.
Parallel zur Suche im Gelände stöberte Schildbach in den Archiven. Auch Unterlagen des amerikanischen Militärs kämmte er durch, fand die Namen der Flieger heraus, die Adressen ihrer Familien. Nächtelang klickte er sich durchs Internet, schrieb Briefe, tippte E-Mails. Faszinierend sei es gewesen, sagt er, wie sich nach und nach ein minutiöses Bild der Ereignisse ergab, vorausgesetzt, man fand die Puzzlestücke. Zu diesem Puzzle gehörte auch Larry aus Miami, den Schildbach bei Facebook aufstöberte und einlud. Die Schauplätze der Ereignisse zu sehen, sei für ihn ein großes Privileg, sagte der Amerikaner.
Praktischen Nutzen hatte Schildbachs Forscherdrang für den Kampfmittelbeseitigungsdienst. Als die Fachleute im Herbst 2013 daran gingen, Patronen und Granaten aus der Heide zu bergen, und dabei unerwartet auf eine amerikanische Fliegerbombe stießen, konnte Matthias Schildbach ihnen das erklären und sie vorbereiten auf das, was kommen würde. Inzwischen sind 23 Bomben aus den zerschellten Flugzeugen gefunden und entschärft.
Profitiert hat aber auch der Ort Reinhardtsgrimma, auf dem über siebzig Jahre der Schatten eines Kriegsverbrechens lastete. Schildbach wies nach, dass die damals an Lieutenant Shanes Landestelle geeilten Einwohner den Lynchmord, für den einer von ihnen wegen Beihilfe verurteilt wurde, nicht zu verantworten hatten. Nach seinen Recherchen trifft die Schuld allein den SS-Angehörigen, der den Abzug drückte, und dann für immer verschwand. Dass die Umstehenden dem Täter nicht in den Arm fielen, hält Matthias Schildbach für nachvollziehbar in Anbetracht der damaligen Verhältnisse. Er ist ehrlich zu sich selbst: „Ich hätte es auch nicht getan.“