Ein Grab für die toten Bomberpiloten

Ein 28-Jähriger aus Kreischa hat sechs Jahre lang nach den Spuren einer 1945 bei Babisnau abgestürzten amerikanischen Fliegerbesatzung geforscht

Von HEIDRUN HANNUSCH, erschienen in DNN am 13. Februar 2006

Andre Schildbach ist 28 Jahre alt. Vor sechs Jahren hat er seinen Armeedienst beendet. Er war bei der Bundeswehr. In einen Krieg musste er nicht. Der Krieg holt ihn jedoch auf andere Weise ein, als er in seine Heimatstadt Kreischa zurückkommt. Da hört er eine Geschichte, die ihn nicht wieder loslässt. Und zwar aus einem Grund: Sie handelt von toten jungen Männern, die so alt waren wie er, als sie starben.

44 Jahre nach Kriegsende schickt die amerikanische Armee Soldaten nach Babisnau bei Dresden. Die meisten von ihnen sind in Zivil. Es fällt nicht weiter auf, als sie beginnen zu graben an einem abseits gelegenen, verwucherten Platz auf den Höhen, zu dem es sonst niemanden zieht. Die berühmte Pappel steht ein paar hundert Meter weiter. Aber natürlich spricht es sich herum, dass die Amerikaner in einem Baumarkt der Gegend nach großen Sieben gefragt haben. Und schließlich auch, wozu sie diese benutzen. Sie sieben Erde, sie suchen Metall, und sie suchen Knochen, menschliche Knochen.

In acht Metern Tiefe fanden sie die Reste eines amerikanischen Flugzeuges. Nicht viel, einige Teile, eine Fallschirmschnalle, der Motorenzylinder ist noch zu erkennen. Wo sie graben sollten, hatte ihnen der Heimatforscher Horst Giegling erklärt. Aus Gesprächen mit Zeitzeugen erfuhr er von jenem Absturz am 17. April 1945. Es war der letzte Bombenangriff auf Dresden. Er galt den Eisenbahnanlagen in Friedrichstadt. Die amerikanischen Flugzeuge starteten am Morgen des Tages im englischen Chelveston, flogen über Holland, dann weiter südlich und näherten sich von Böhmen aus dem Ziel. Kurz vor Dresden rammte ein deutscher Me-262-Jäger den Bomber, den die Besatzung „Towering Titan“ genannt hatte. Eine Tragfläche brach ab, das Flugzeug stürzte ab. Auf einer Luftaufnahme, die zwei Stunden später von dem Gebiet um Dresden gemacht wurde, sieht man die Rauchwolke, die über der Absturzstelle aufsteigt. An Bord waren acht Männer zwischen 19 und 28 Jahren. Jene Männer, nach deren Knochenresten die amerikanischen Soldaten 1999 gruben. Und nach deren Spuren Andre Schildbach sechs Jahre lang gesucht hat. „Natürlich verurteile ich auch die Bombenangriffe auf Dresden“, sagt der Hobby-Geschichtsforscher. Aber jeder habe doch ein anständiges Grab verdient. Das hätten doch auch deutsche Soldaten in Stalingrad bekommen.

Rose Losse steht am 17. April 1945 in ihrer Küche in St. Louis/Missouri, als ein Vogel gegen das Fenster fliegt. Da weiß sie, es ist etwas passiert. Earl und Rose Losse waren erst seit kurzem verheiratet, als er bei Dresden fiel. Nach Kriegsende bekommt sie die Nachricht, dass ihr Mann Earl nach einem Einsatz über Deutschland vermisst wird. Dass er an jenem Tag des verirrten Vogels gestorben ist, erfährt sie erst 57 Jahre später. Als der junge Kreischaer mit ihr 2002 am Telefon spricht, muss sie immer wieder weinen. Täglich, so erzählt sie Andre Schildbach, habe sie geglaubt, die Tür geht auf und Earl kommt wieder zurück. Aber sie ist froh, jetzt zu wissen, wo und wie er gestorben ist.

Die Angehörigen von Earl Losse sind die ersten, die Schildbach findet. Dass die „Titan“ als verschollen galt, hatte bereits Giegling in Archiven entdeckt. Acht verlorene Flugzeuge an diesem 17. April 1945, nur sieben davon wurden gefunden. Schildbach interessiert sich vor allem für die Männer, die an Bord waren. Beim Washingtoner Headquarter der Air Force erhält er die Besatzungsliste. Acht Namen, neben jedem steht die Abkürzung m.i.a., missing in action, vermisst im Kampf. Und er bekommt Kopien der Aktenblätter der acht. Mit dem Namen, der militärischen Laufbahn, der letzten Adresse und einem Foto. Spätestens das war der Punkt – als er die Gesichter sah, konnte er nicht mehr aufhören, sagt Schildbach. Jetzt will er erfahren, wer sie waren, und er will den Angehörigen mitteilen, was mit ihnen geschehen ist.

Am Ende findet er sie alle. Er ruft bei den alten Adressen an, die in den Militärakten stehen. Die unergiebigste Quelle, Amerikaner ziehen einfach zu oft um. Er recherchiert im Internet, klickt Hunderte von Seiten mit Familienstammbäumen an. Er schaltet Suchanzeigen – in amerikanischen Lokalzeitungen und in einem Blatt für US-Kriegsveteranen. Es sind große Umwege, die er nehmen muss. Einer führt ihn auch nach Chelveston. Hier trifft er auf einen Historiker, der sich mit der Geschichte des amerikanischen Luftwaffenstützpunktes in Chelveston beschäftigt. Er liefert all die Details über die „Towering Titan“, über ihre Einsätze. Auch über jenen Tag im September 1944, als der Himmel über Dresden bedeckt ist und die Maschine abdrehen muss zu einem Ausweichziel. Und den 14. Februar 1945, als die „Titan“ drei Tonnen Spreng- und Brandbomben über der Stadt abwirft. „Ich weiß sehr wohl, was mit Dresden geschehen ist, und ich bin voll Scham, dass mein Land so viel sinnloses, unnützes Töten in die Welt getragen hat“, schreibt der Brite dem jungen Deutschen. Und der sagt: „Unsere Generation muss es besser machen.“ Und das beginnt für ihn mit der Versöhnung über die Gräber hinweg.

Der Grabstein steht noch nicht, als im September 2003 der Sohn des Navigators der abgestürzten Maschine in die verwucherte Erde an diesem einsamen Platz bei Babisnau ein kleines amerikanisches Fähnchen steckt. So wie man es auf amerikanischen Friedhöfen an Gräbern von allen gefallenen Soldaten tut. Walters Vater war Herman Reeve Spurricr. Außer der Familie erinnert sich heute keiner mehr an seinen Namen. Aber vielleicht hat er davon geträumt, dass es einmal viele tun werden. Sein Traum war der Film. Er gibt sein Studium auf und nimmt einen Job in Hollywood an, bei den Metro-Goldwyn-Mayer-Studios. Als 1939 der Film „Vom Winde verweht“ gedreht wird, ist er dabei. Nicht in der ersten Reihe, aber als Bühnenarbeiter zumindest näher als die meisten anderen. Und nah ist er auch dem Hauptdarsteller Clark Gable, der zu einem Freund der Familie wird. Und wie Gable geht Spurricr zur US-Army, als die Japaner Pearl Harbour überfallen. Am Anfang ist er auf den Galápagos-Inseln stationiert, wo er seine spätere Frau, die Ecuadorianerin Maria, kennenlernt. 1944 kommt Sohn Walter auf die Welt, wenige Tage danach wird Herman Reeve Spurricr nach England versetzt.

Als Walter Spurrier mit seiner Frau und seiner Tochter nach Babisnau kommt, trifft er auch jenen Mann, der damals gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern die Leichen der Abgestürzten begraben hat. Das, was übrig bleibt, wenn ein Flugzeug am Boden explodiert. Ein halber Kopf an einem halben Oberkörper, ein Arm, eine Hand, kein Gesicht, an das man sich erinnern müsste. Und nun sitzt ihm im Garten ein 60-jähriger Mann gegenüber, der Fotos seines Vaters zeigt.

Und in Jonesboro/Illinois treffen sich im gleichen Jahr der damals 26-jährige Andre Schildbach und der 79-jährige Colin W. Lyerla. Lyerla flog bis Oktober 1944 auf der „Towering Titan“. Und er erzählt, wie er 20-jährig bei seiner ersten Mission auf einem amerikanischen Bomber über die Bordsprechanlage die Schreie hört der Kameraden aus getroffenen Maschinen, die mit der Formation fliegen. Er spricht von Mut und von Angst. Gegen die Angst, die klein macht, setzt er ein trotziges Zeichen, das unbesiegbare Größe symbolisieren soll. Auf den Rumpf der Maschine malt Lyerla wie eine Comic-Figur einen Riesen, der über dem Kopf einen Felsbrocken in den Händen hält, bereit, ihn nach unten zu schleudern auf das Hakenkreuz, das ihm zu Füßen liegt. Wegen dieser Figur erhält das Flugzeug auch den Namen „Towering Titan“. Jede Maschine hat einen Namen. Auch jene, die eigentlich für den Einsatz vorgesehen ist und für die dann die „Titan“ einspringt. Auf ihrem Rumpf steht: „Dear mum“, „Liebe Mama“.

Der Pilot der „Titan“ Brainard Harris ist 19, als er stirbt. Einen Tag später, am 18. April 1945, wäre er 20 geworden. Kein Denkmal, aber einen richtigen Grabstein wollte Andre Schildbach für die toten Soldaten. Ein Grabmal mit allen acht Namen darauf. Nach langen Diskussionen hat sich die Gemeinde dagegen entschieden. Den Stein gibt es seit knapp einem Jahr. „Unweit dieser Stelle ruhen acht alliierte Soldaten. 17. April 1945“, heißt die Aufschrift. Man wollte keinen Ärger, mit wem auch immer. Deshalb wurden alle Hinweise auf Amerikaner vermieden. Der Platz ist versteckt, schwer zu finden. Das Material ist besonders, schwer zerstörbar. Und der Grabstein steht nicht, er liegt, damit er nicht umgestoßen werden kann.

Zurück
Zurück

Der Mann, der vom Himmel fiel

Weiter
Weiter

Towering Titan