Gerechtigkeit für die Enthauptete?

Magd Rosina verlor ihren Kopf, wegen Kindsmords. War sie schuldig? Ein Kreischaer Hobbyforscher rollt den Fall neu auf

Von JÖRG STOCK, erschienen in der Sächsischen Zeitung, 1. Juni 2021

Es sind die letzten Augenblicke im Leben der Rosina Heschel. Im Büßerhemd, geleitet vom Kruzifix und von frommen Gesängen, geht sie auf ihre Richtstatt zu, einen Hügel hinauf, den man den Gohlich nennt. Es ist ein kalter, diesiger Wintertag. Der Acker ist kahl, der Himmel grau. Doch gerade als der Scharfrichter sein gewaltiges Schwert erhebt, reißen die Wolken auf. Ein Sonnenstrahl trifft die Unglückliche, wie ein Licht aus jener besseren Welt, in die einzutreten nun ihr einziger Trost ist.

Dieser Tag liegt 270 Jahre zurück. Es ist der Tag, an dem der Magd Rosina Heschel wegen Mordes an ihrem Neugeborenen auf den Feldern des Ritterguts Bärenklau der Kopf abgeschlagen wird. Aber eigentlich ist es ein Tag im vorigen Winter. Da geht der Hobbyhistoriker Matthias Schildbach den letzten Gang der Verurteilten nach. Er setzt sich Kopfhörer auf, hört die damals angestimmten Kirchenlieder, deren Titel er in den Niederschriften gefunden hat. Er stapft durch die Trübnis bergan, und als er oben ist, bricht eben dieser Sonnenstrahl hervor. „Da kriegst du Gänsehaut!“

Matthias Schildbach aus Kreischa, der „Bombensucher“, hat ein neues Buch geschrieben. Diesmal geht es nicht um abgestürzte amerikanische Kampfflieger aus dem Zweiten Weltkrieg, die so lange seine Passion waren. Diesmal hat er keine Trümmerteile gefunden, keine verbrannte Fallschirmseide, keine Uniformknöpfe. Für die Tragödie der Rosina Heschel gibt es keinerlei Sachzeugen, abgesehen von einem ungelenk aus Sandstein gehauenen Kreuz, das westlich des Örtchens Bärenklause im Gestrüpp steht. Die Inschrift: DECOLLATA Die Enthauptete.


Halbes Jahr Akten abgeschrieben

Wer das Kreuz dort aufgestellt hat und wann, ist unbekannt. Früheste Beschreibungen stammen vom Ende des 19. Jahrhunderts. Matthias Schildbach hörte erstmals als Schuljunge davon. Er mag um die zehn Jahre alt gewesen sein, da fuhr er mit seinen Kumpels auf Fahrrädern los, das Kreuz der geköpften Magd anzuschauen. „Für uns war das ein Abenteuer, und auch ein bisschen gruselig.“ Den ganzen Tag lang durchkämmten die Jungs das Gelände und fanden schließlich, was sie suchten. „Wir waren ziemlich stolz.“

Eingehauen in den knapp hüfthohen Stein sind die Initialen Rosina Heschels, R und H, sowie das Datum ihrer Hinrichtung: „d. 18. Dezember Anno 1750.“ Was dem Todesurteil voranging, war bis hierhin allenfalls in groben Zügen bekannt. Es war viel Volksmund mit dabei, sagt Matthias Schildbach. Einig waren sich die Erzähler offenbar über Rosinas Schuld. „Sie galt immer als die Kindsmörderin.“

Heimatforscher Schildbach, inzwischen 43 Jahre alt, hat gelernt, dass es Schwarz und Weiß im Leben nicht gibt. Die Zwischentöne interessieren ihn, das persönliche Schicksal. Dass er die Schicksale der abgestürzten US-Piloten erhellte, aber auch diejenigen ihrer deutschen Gegner am Boden, brachte ihm 2019 den Sächsischen Landespreis für Heimatforschung ein. Im gleichen Jahr begann er, die Akten des Falls Rosina Heschel zu ziehen

Zum Prozess „contra Rosina Heschelin" lagern im Sächsischen Hauptstaatsarchiv rund 500 Seiten. Ein halbes Jahr lang hat Matthias Schildbach das gewundene Kanzleideutsch der Gerichtsdiener ins Lesbare übertragen, ein aufreibendes Stück Arbeit: „Ich war schockiert, dass ein heute so alltägliches Problem in eine derartige Katastrophe führte.“

Sich in die Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts, noch dazu in die einer Frau, einzufühlen, war herausfordernd, sagt Schildbach. Was es damals hieß, ein Kind ohne bekennenden Vater zu gebären, könne man heute kaum mehr ermessen: ausgestoßen sein, entehrt sein, zurückgesetzt, über Generationen hinweg. Die Angst und Panik, die Rosina Heschel anfiel, als sie am Osterabend 1750 ihr Kind auf dem Scheunenboden der Herrschaft mutterseelenallein zur Welt brachte, fast besinnungslos vor Schmerzen, mag erklären, was sie dem Neugeborenen womöglich antat.

Vater des Kindes war der Knecht Gottlieb Wagner. Im Sommer 1749 hatte sich Rosina mit ihm „fleischlich vermischet“, wie es im Verhör heißt. Rosina, nichts anderes gewohnt als zu gehorchen, gehorcht Gottlieb, als der ihr einschärft, die Schwangerschaft geheim zu halten. Vor Gericht wird er das leugnen, ja, er wird beteuern, niemals mit Rosina zusammen gewesen zu sein. Die Gerichtsherren misstrauen ihm. Und doch erlegen sie ihm nichts weiter auf, als in der Kirche Buße zu tun.

Rosina aber wird die Folter angedroht, wenn sie nicht zugibt, dass sie ihren kleinen Jungen, der noch am Tage der Geburt tot im Stroh entdeckt worden war, selbst umgebracht hat. Bisher hatte sie stets ausgesagt, das Kind habe kaum Lebenszeichen von sich gegeben. Sie habe nichts anderes getan, als es ins Stroh gelegt, um dann Hilfe suchend durchs Haus zu laufen.

Erst im Angesicht des Folterknechts, der ihr darlegt, auf welche Weise er alle ihre Gelenke zu brechen gedenkt, erklärt sie, dem Kind Gewalt angetan zu haben. Sie habe zweimal mit dem Daumen in den Hinterschädel gedrückt. In dieser Region waren bei der Leichenschau Blutungen gefunden worden. Damit ist Rosinas Schicksal besiegelt. Sie kann von Glück sagen, nicht ertränkt oder gerädert zu werden. Der Tod durch das Schwert gilt als Gnade.

Dass das Kind auf die von Rosina angegebene Weise starb, ist unwahrscheinlich. Matthias Schildbach hat das Sektionsprotokoll von 1750 Medizinern des Pirnaer Helios-Klinikums und der Uniklinik Dresden vorgelegt. In Betracht kämen laut der Ärzte allenfalls massive Schläge als Ursache für eine Hirnblutung. Die Sektion lieferte dafür aber keine klaren Anhaltspunkte. Eine absichtliche Tötung ist nicht nachweisbar.

Warum also die harte Strafe? Man wollte die Macht der Obrigkeit untermauern, denkt Matthias Schildbach. Lieber ein drakonisches Urteil fällen, als mit langem Verhandeln Schwäche zeigen. Was wirklich auf dem Scheunenboden geschah, bleibt im Dunkeln. Matthias Schildbach kann Rosina zwar nicht entlasten. Wer eines denkt, hat er sicher erreicht. Wer das Buch liest, wird Mitleid mit ihr haben.

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