Festung Königstein: Über den Kommandanten, der die Kunst rettete
Ein neues Buch erzählt die Geschichte von Michael Lorenz von Pirch aus dem 18. Jahrhundert, ohne den es die Dresdner Kunstsammlungen heute nicht mehr gäbe.
Von MATTHIAS SCHILDBACH, erschienen in der Sächsischen Zeitung am 20. Juni 2024
Das klingt nach einer Durchhalteparole aus dem 20. Jahrhundert: „... bis zum äußersten standhaft verteidigen und in allen Fällen das Äußerste abwarten...“ In Wirklichkeit ist der Satz nichts anderes als der Befehl des sächsischen Kurfürsten und Königs von Polen, August III., an seinen Königsteiner Festungskommandanten. Damals, 1760, musste sich der Königstein nach der Belagerung Dresdens durch die Preußen auf ein gleiches Schicksal vorbereiten. Der Monarch indes weilte im sicheren Exil in Warschau samt Hofstaat – und wartete die Dinge ab.
Was vom Kommandanten der Festung Königstein, der größten Bergfestung Europas, in jenen Jahren erwartet und geleistet wurde, gleicht einem politischen Thriller, der den Stoff für einen Kinofilm liefern könnte. Aufgewachsen in einem verschlafenen Nest in Pommern, schlug der junge Michael Lorenz von Pirch eine frühe Militärkarriere ein. Mit 14 Jahren trat er in den Dienst des Königs von Polen ein, der sein Leben lang sein Monarch sein sollte: August II., der Starke. Seinerzeit kämpfte Augusts Armee gegen die Schweden, der Nordische Krieg war im vollen Gang. Pirch geriet in schwedische Gefangenschaft, drei Jahre musste er warten, bis er freigekauft wurde.
Fortan sollte er ganz vorn mit dabei sein: 1706 in der Schlacht von Fraustadt, 1708 bei der Belagerung der Festung Lille, 1709 in der Schlacht von Malplaquet, 1715 bis 1717 in den Kämpfen gegen die polnischen Konföderierten. Pirch bewährte sich als Führer, wurde befördert und stieg auf. Die Jahrzehnte vergingen. 1741 wurde er zum Kommandeur einer Elite-Truppe, der Leibgrenadiergarde. 1745 nahm er als Regimentskommandeur der Infanteriebrigade Pirch an der Schlacht bei Kesselsdorf teil – ein Desaster für die Sachsen, dem er noch ohne Gefangennahme entkam.
Als 1753 der Festungskommandant des Königsteins verstarb, wurde der gerade zum Generalleutnant beförderte von Pirch mit dem verantwortungsvollen Posten betraut. Dem 66-Jährigen sollte kein Ruhestandsposten, sondern die verantwortungsvollste Aufgabe seiner Karriere bevorstehen.
Sächsische Armee wird vernichtet
Im späten Sommer 1756 besetzten die Preußen ohne vorherige Kriegserklärung das Kurfürstentum Sachsen. Im Raum Pirna konzentrierte Feldmarschall Rutowski die sächsische Armee in einem befestigten Lager. Als alle Vorräte zur Neige gingen und auf Ersatz nicht mehr zu hoffen war, kapitulierte die sächsische Armee auf der Ebene vor dem Lilienstein.
Der sächsische Monarch, sein Premierminister Graf Brühl, der Festungskommandant – sie alle standen hinter den Zinnen des Königsteins und mussten das Desaster mit eigenen Augen bezeugen. Einzig die Festung Königstein blieb unbesetzt. Preußens König Friedrich II. hatte eine Neutralitätsvereinbarung angeregt, die die Festung in sächsischer Hand beließ, jedoch eine strikte Neutralität für die Dauer des Krieges vorschrieb. Am 18. Oktober 1756, sieben Wochen nach dem preußischen Einmarsch, wurde der Pakt besiegelt.
Was den Kommandanten erwartete, war eine Gratwanderung. Er hatte nicht nur für die 1.500 auf der Festung befindlichen Menschen zu sorgen, es war ihm fortan auch nicht mehr gestattet, in irgendeiner Art militärisch in die nähere Umgebung einzugreifen – weder gegen den Feind noch für die Verbündeten.
Die Neutralitätskonvention wurde Grundlage für Pirchs Tun und Handeln. Sie sollte seine Entscheidungen für den Rest seines Lebens bestimmen. Immer wieder übertrug sich das Kriegsgeschehen in die unmittelbare Umgebung, zogen auch die österreichischen Verbündeten an der Festung vorbei und verlangten vom Kommandanten Pirch Versorgung an Militärequipage. Pirch wusste stets, was auf dem Spiel stand, hielt sich strikt an die geschlossene Konvention mit den Preußen und verweigerte sich selbst den eigenen Alliierten.
Als im Sommer 1759 die Gunst der Stunde schlug und sich die preußische Armee abseits an der Oder befand, wurde Vorsorge getroffen, die wertvollen Schätze der Kunstsammlungen auf die Festung Königstein zu evakuieren. Dieser Entschluss war nachhaltig, denn als ein Jahr später die Preußen Dresden belagerten und sie die Stadt nach der Verweigerung des österreichischen Kommandanten in Brand schossen, wären die Kunstschätze ein für alle Mal verloren gewesen – unter ihnen auch Raffaels Sixtinische Madonna.
Der Siebenjährige Krieg sollte noch drei weitere Jahre andauern. Bis zum Friedensschluss blieb es in Sachsen jedoch weitgehend ruhig. Festungskommandant Pirch erlebte diesen Tag nicht mehr. Die letzten Jahre hatten ihren Tribut gefordert. 1761 verstarb er. Seine letzte Ruhestätte fand er am Fuß des Königsteins auf dem heute verwilderten Garnisonsfriedhof, in der von ihm selbst vorher errichteten Kommandantengruft.
Die Ernennung Pirchs zum Festungskommandanten im Vorfeld des Siebenjährigen Krieges war ein nachhaltiger Glücksgriff für ganz Sachsen gewesen, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart wirken. Ihm war es während des Siebenjährigen Krieges gelungen, die Festung weder Freund noch Feind zu öffnen, höfischen Intrigen, die seine preußische Herkunft immer wieder befeuerte, zu trotzen und gleichzeitig die seiner Obhut anvertrauten Kunstschätze von unermesslichem Wert seinem Landesherren zu bewahren. Sein König akzeptierte stets die Entscheidungen seines Festungskommandanten, auch wenn es oft erst im Nachhinein geschah. Pirch wiederum verstand es, respektvoll aber distanziert mit Friedrich dem Großen zu verhandeln.
Michael Lorenz von Pirch diente 59 Jahre lang treu und aufrichtig seiner zweiten Heimat Sachsen. Der Autor seines Lebensbildes, Hans-Joachim Rühle, weiß ihn gebührend zu würdigen: „Er handelte in den schweren Jahren des Krieges nicht nur als General oder als Kurator der Kunstschätze Dresdens. Er handelte vor allem als Organisator des Überlebens auf der Festung und nahm, seinem christlichen Glauben folgend, die ihm auferlegten Pflichten gegenüber den ihm anvertrauten Soldaten, Frauen und Kindern aufopferungsvoll und mit menschlicher Größe wahr. In der langen Reihe von Festungskommandanten nimmt Michael Lorenz von Pirch deshalb einen besonderen Platz ein.“
Autor dieser spannenden Buch-Neuerscheinung ist Hans-Joachim Rühle. Der studierte Ingenieur-Ökonom arbeitete im grafischen Maschinenbau. Zuletzt war er für die Gemeindeverwaltungen Wachau und Arnsdorf tätig. Heute lebt der 73-Jährige in Obergurig bei Bautzen.
Die sächsische Militärgeschichte faszinierte ihn seit jeher. Mehrere Jahre war Rühle Mitglied im Verein „Via Regia“ in Markersdorf und im Arbeitskreis „Sächsische Militärgeschichte“ in Dresden. Seit 2017 bringt der Ruheständler sich auf der Festung Königstein ein, durchforscht die Bestände des Festungsarchivs und führt Besucherführungen an. Was ihn an der Festung Königstein ganz besonders fasziniert, umschreibt er so: „Die Festung Königstein ist für mich ein beeindruckendes Beispiel sächsischer Ingenieurskunst, die Krönung des Bergfestungsbaus in Europa. Eingebettet in eine solch malerische Landschaft und ausgestattet mit einer großartigen Geschichte, die man in so vielen Kapiteln erzählen kann, ist sie für mich ein ganz fester und beeindruckender Pfeiler meiner Heimat.“
Festung Königstein: Über den Kommandanten, der die Kunst rettete
Ein neues Buch erzählt die Geschichte von Michael Lorenz von Pirch aus dem 18. Jahrhundert, ohne den es die Dresdner Kunstsammlungen heute nicht mehr gäbe.
Von MATTHIAS SCHILDBACH
Das klingt nach einer Durchhalteparole aus dem 20. Jahrhundert: „... bis zum äußersten standhaft verteidigen und in allen Fällen das Äußerste abwarten...“ In Wirklichkeit ist der Satz nichts anderes als der Befehl des sächsischen Kurfürsten und Königs von Polen, August III., an seinen Königsteiner Festungskommandanten. Damals, 1760, musste sich der Königstein nach der Belagerung Dresdens durch die Preußen auf ein gleiches Schicksal vorbereiten. Der Monarch indes weilte im sicheren Exil in Warschau samt Hofstaat – und wartete die Dinge ab.
Was vom Kommandanten der Festung Königstein, der größten Bergfestung Europas, in jenen Jahren erwartet und geleistet wurde, gleicht einem politischen Thriller, der den Stoff für einen Kinofilm liefern könnte. Aufgewachsen in einem verschlafenen Nest in Pommern, schlug der junge Michael Lorenz von Pirch eine frühe Militärkarriere ein. Mit 14 Jahren trat er in den Dienst des Königs von Polen ein, der sein Leben lang sein Monarch sein sollte: August II., der Starke. Seinerzeit kämpfte Augusts Armee gegen die Schweden, der Nordische Krieg war im vollen Gang. Pirch geriet in schwedische Gefangenschaft, drei Jahre musste er warten, bis er freigekauft wurde.
Fortan sollte er ganz vorn mit dabei sein: 1706 in der Schlacht von Fraustadt, 1708 bei der Belagerung der Festung Lille, 1709 in der Schlacht von Malplaquet, 1715 bis 1717 in den Kämpfen gegen die polnischen Konföderierten. Pirch bewährte sich als Führer, wurde befördert und stieg auf. Die Jahrzehnte vergingen. 1741 wurde er zum Kommandeur einer Elite-Truppe, der Leibgrenadiergarde. 1745 nahm er als Regimentskommandeur der Infanteriebrigade Pirch an der Schlacht bei Kesselsdorf teil – ein Desaster für die Sachsen, dem er noch ohne Gefangennahme entkam.
Als 1753 der Festungskommandant des Königsteins verstarb, wurde der gerade zum Generalleutnant beförderte von Pirch mit dem verantwortungsvollen Posten betraut. Dem 66-Jährigen sollte kein Ruhestandsposten, sondern die verantwortungsvollste Aufgabe seiner Karriere bevorstehen.
Sächsische Armee wird vernichtet
Im späten Sommer 1756 besetzten die Preußen ohne vorherige Kriegserklärung das Kurfürstentum Sachsen. Im Raum Pirna konzentrierte Feldmarschall Rutowski die sächsische Armee in einem befestigten Lager. Als alle Vorräte zur Neige gingen und auf Ersatz nicht mehr zu hoffen war, kapitulierte die sächsische Armee auf der Ebene vor dem Lilienstein.
Der sächsische Monarch, sein Premierminister Graf Brühl, der Festungskommandant – sie alle standen hinter den Zinnen des Königsteins und mussten das Desaster mit eigenen Augen bezeugen. Einzig die Festung Königstein blieb unbesetzt. Preußens König Friedrich II. hatte eine Neutralitätsvereinbarung angeregt, die die Festung in sächsischer Hand beließ, jedoch eine strikte Neutralität für die Dauer des Krieges vorschrieb. Am 18. Oktober 1756, sieben Wochen nach dem preußischen Einmarsch, wurde der Pakt besiegelt.
Was den Kommandanten erwartete, war eine Gratwanderung. Er hatte nicht nur für die 1.500 auf der Festung befindlichen Menschen zu sorgen, es war ihm fortan auch nicht mehr gestattet, in irgendeiner Art militärisch in die nähere Umgebung einzugreifen – weder gegen den Feind noch für die Verbündeten.
Die Neutralitätskonvention wurde Grundlage für Pirchs Tun und Handeln. Sie sollte seine Entscheidungen für den Rest seines Lebens bestimmen. Immer wieder übertrug sich das Kriegsgeschehen in die unmittelbare Umgebung, zogen auch die österreichischen Verbündeten an der Festung vorbei und verlangten vom Kommandanten Pirch Versorgung an Militärequipage. Pirch wusste stets, was auf dem Spiel stand, hielt sich strikt an die geschlossene Konvention mit den Preußen und verweigerte sich selbst den eigenen Alliierten.
Als im Sommer 1759 die Gunst der Stunde schlug und sich die preußische Armee abseits an der Oder befand, wurde Vorsorge getroffen, die wertvollen Schätze der Kunstsammlungen auf die Festung Königstein zu evakuieren. Dieser Entschluss war nachhaltig, denn als ein Jahr später die Preußen Dresden belagerten und sie die Stadt nach der Verweigerung des österreichischen Kommandanten in Brand schossen, wären die Kunstschätze ein für alle Mal verloren gewesen – unter ihnen auch Raffaels Sixtinische Madonna.
Der Siebenjährige Krieg sollte noch drei weitere Jahre andauern. Bis zum Friedensschluss blieb es in Sachsen jedoch weitgehend ruhig. Festungskommandant Pirch erlebte diesen Tag nicht mehr. Die letzten Jahre hatten ihren Tribut gefordert. 1761 verstarb er. Seine letzte Ruhestätte fand er am Fuß des Königsteins auf dem heute verwilderten Garnisonsfriedhof, in der von ihm selbst vorher errichteten Kommandantengruft.
Die Ernennung Pirchs zum Festungskommandanten im Vorfeld des Siebenjährigen Krieges war ein nachhaltiger Glücksgriff für ganz Sachsen gewesen, dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart wirken. Ihm war es während des Siebenjährigen Krieges gelungen, die Festung weder Freund noch Feind zu öffnen, höfischen Intrigen, die seine preußische Herkunft immer wieder befeuerte, zu trotzen und gleichzeitig die seiner Obhut anvertrauten Kunstschätze von unermesslichem Wert seinem Landesherren zu bewahren. Sein König akzeptierte stets die Entscheidungen seines Festungskommandanten, auch wenn es oft erst im Nachhinein geschah. Pirch wiederum verstand es, respektvoll aber distanziert mit Friedrich dem Großen zu verhandeln.
Michael Lorenz von Pirch diente 59 Jahre lang treu und aufrichtig seiner zweiten Heimat Sachsen. Der Autor seines Lebensbildes, Hans-Joachim Rühle, weiß ihn gebührend zu würdigen: „Er handelte in den schweren Jahren des Krieges nicht nur als General oder als Kurator der Kunstschätze Dresdens. Er handelte vor allem als Organisator des Überlebens auf der Festung und nahm, seinem christlichen Glauben folgend, die ihm auferlegten Pflichten gegenüber den ihm anvertrauten Soldaten, Frauen und Kindern aufopferungsvoll und mit menschlicher Größe wahr. In der langen Reihe von Festungskommandanten nimmt Michael Lorenz von Pirch deshalb einen besonderen Platz ein.“
Autor dieser spannenden Buch-Neuerscheinung ist Hans-Joachim Rühle. Der studierte Ingenieur-Ökonom arbeitete im grafischen Maschinenbau. Zuletzt war er für die Gemeindeverwaltungen Wachau und Arnsdorf tätig. Heute lebt der 73-Jährige in Obergurig bei Bautzen.
Die sächsische Militärgeschichte faszinierte ihn seit jeher. Mehrere Jahre war Rühle Mitglied im Verein „Via Regia“ in Markersdorf und im Arbeitskreis „Sächsische Militärgeschichte“ in Dresden. Seit 2017 bringt der Ruheständler sich auf der Festung Königstein ein, durchforscht die Bestände des Festungsarchivs und führt Besucherführungen an. Was ihn an der Festung Königstein ganz besonders fasziniert, umschreibt er so: „Die Festung Königstein ist für mich ein beeindruckendes Beispiel sächsischer Ingenieurskunst, die Krönung des Bergfestungsbaus in Europa. Eingebettet in eine solch malerische Landschaft und ausgestattet mit einer großartigen Geschichte, die man in so vielen Kapiteln erzählen kann, ist sie für mich ein ganz fester und beeindruckender Pfeiler meiner Heimat.“