Als der Titan aus den Wolken stürzte

Am 17. April 1945 startet der Bomber „Towering Titan“ zum Angriff auf Dresden. Er kehrt nie mehr zurück. Ein Hobbyhistoriker klärt das Schicksal des Flugzeugs und deckt einen Mord auf.

Von JÖRG STOCK, erschienen in der Sächsischen Zeitung, 16. November 2019

Ein Bild zusammenfügen aus zahllosen, blindlings verstreuten Fetzen – das ist es, was Matthias Schildbach antreibt. Als er diesen Sommer mit zwei Einwohnern von Burkhardswalde über die Felder holpert, hofft er, gleich den letzten Fetzen der Geschichte zu finden, die bei ihm daheim schon sieben Ordner füllt. Eine kleine Senke vor dem Wald ist das Ziel, abgelegen, unsichtbar in der weiten Landschaft. Als Schildbach den Platz sieht, schwinden ihm alle Zweifel: „Wenn man einen umbringen will, ohne Zeugen, dann hier.“

Matthias Schildbach ist kein Kriminalkommissar, sondern ein gelernter Buchhändler und Ergotherapeut. In seiner Freizeit ist er vor allem Heimatforscher. Aktenstücke lesen, Leute befragen, Spuren suchen, kombinieren, mit Wahrscheinlichkeiten spielen – das klingt immerhin wie "Tatort" und ist für den 42-jährigen Kreischaer mindestens genauso spannend: „Es macht mir einen Heidenspaß“, sagt er. Seine Spezialität sind verschollene Kampfflugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg.

Schildbach ist ein ausgezeichneter Ermittler. Das hat er jetzt schriftlich. Sachsens Kultusstaatssekretär überreichte ihm Anfang des Monats den Sächsischen Landespreis für Heimatforschung. Schildbach hatte den Zusammenstoß zweier amerikanischer B-17-Bomber über der Dippoldiswalder Heide aufgeklärt. Der Fall drängte sich in seine Arbeit hinein, als Kampfmittelräumer 2013 unvermutet und in Massen Fliegerbomben in der Heide fanden. Sie waren beim Crash aus den Wracks gefallen.

Eigentlich war Matthias Schildbach längst einer anderen Spur gefolgt, der Spur der „Towering Titan“, des turmhohen Riesen. 1999 hörte er zum ersten Mal davon, dass ein amerikanisches Bombenflugzeug mit diesem Beinamen am 17. April 1945 in seiner Heimatgemeinde, bei Babisnau, zerschellt war. Amerikaner seien neulich vor Ort gewesen und hätten nach den Toten gegraben. So fing Schildbach mit der Recherche an, in der Absicht, einen kleinen Artikel für die Heimatzeitung zu verfassen. Die Recherche dauerte 20 Jahre. Aus dem Artikel wurde ein Buch. Jetzt ist es erschienen. Sein Titel: „Die letzte Mission“.

Was von der letzten Mission der „Towering Titan“ übrig ist, zeigt Matthias Schildbach in seiner Garage: zerknautschtes Aluminium, Reste von Kolben und Zylindern, der Turbolader eines der vier Motoren der "Fliegenden Festung", herausgerissen aus der Tragfläche. Es sind Funde, die Schildbach an der Absturzstelle machte, einem ehemaligen Steinbruch, nach dem Krieg Müllhalde. Auch ein Grabkreuz gehört zur Kollektion: „Hier ruht ein unbekannter alliierter Flieger“. Der Flieger ist nicht mehr unbekannt. Er hieß Walter McClellan, 19 Jahre alt, stammte aus Florida und war Funker der „Towering Titan“. Er starb nicht in seiner Maschine, sondern in jener kleinen Senke bei Burkhardswalde, durch die Kugeln von SS-Männern.

Krieg, das heißt rigorose Enthemmung, auf beiden Seiten, wie Schildbach betont. Er betrachtet die Geschehnisse ohne Wertung, rechnet nicht die Leben der Bombenflieger auf gegen die Leben derer, die ihre Bomben auslöschten. „Unschuldige wurden zu Mördern gemacht“, sagt er. Für die SS-Leute, die McClellan töteten, lässt er das nicht gelten. Ihre Tat war auch nach damaligen Maßstäben ein Kriegsverbrechen. "Dieser Tod hätte nicht sein müssen." Dass der namenlose Flieger, bestattet damals auf dem Friedhof von Burkhardswalde, zur Besatzung der „Towering Titan“ gehört hatte, war bereits 1997 vom Geisinger Luftkriegshistoriker Horst Giegling, Schildbachs Freund und Mentor, vermutet worden. Auf dessen Hinweis hin exhumierte das US-Militär 2010 die Knochen und identifizierte McClellan anhand seiner Zähne. Zu diesem Zeitpunkt hatte Matthias Schildbach bereits Kontakt zu sämtlichen Familien der Bombercrew hergestellt und ihnen die letzten Stunden der „Titan“ und ihrer Besatzung geschildert, die noch immer als „Missing in Action“ galt.

Am 17. April 1945, gegen 9:30 Uhr, hebt die B-17 „Towering Titan“ der United States Army Air Force, 305. Bombergruppe, vom englischen Feldflugplatz Chelverston ab, um gemeinsam mit über 500 weiteren Maschinen den Bahnhof Dresden-Friedrichstadt zu bombardieren. Kurz nach 14 Uhr, die gewaltige Streitmacht ist beinahe am Ziel, attackieren deutsche Messerschmitts den Verband. Die Me 262 ist das erste Strahlflugzeug der Welt. Mit Staunen und Grauen sehen die Bomberflieger die pfeilschnellen Jäger herabstoßen, gegen die ihre schwerfälligen Maschinen kaum etwas ausrichten können. Ob Unglück oder Absicht: Einer der Jets rammt die „Towering Titan“, säbelt ihr ein Stück der linken Tragfläche ab und explodiert. Das Bombenflugzeug trudelt in die Wolken – Fallschirme sind nicht zu sehen. Gleich nach Kriegsende suchen die Amerikaner, getreu ihrem Anspruch, keine Gefallenen zurückzulassen, das Wrack. Allerdings in der Freiberger Gegend. Die Koordinaten der Verlustmeldung sind falsch. Tatsächlich schlägt die „Towering Titan“ im Steinbruch bei Babisnau ein. Von der Besatzung bleiben nur unkenntliche Stücke zurück, die in einer Holzkiste an Ort und Stelle beerdigt werden.

Dass Schildbachs Recherche McClellans Überreste identifizieren konnte, grenzt an ein Wunder. Womöglich hatte er gerade die Sicherungen an den Bomben gezogen, als die Kollision geschah, und war aus der offenen Bombenklappe gesprungen. Sieben Kilometer östlich landet er auf dem Dach eines Bauernhauses. Obwohl sich die Einwohner für ihn verwenden, wird McClellan von der SS weggebracht, geschlagen und schließlich ermordet. Tags darauf ziehen die Täter ab. Sie bleiben für immer unerkannt.

Doch die Besatzung der „Towering Titan“ bekommt Gesichter, Lebensläufe, Biografien. Weil Matthias Schildbach unermüdlich das Internet nach Informationen durchforstet, auf gut Glück E-Mails schickt, Veteranenverbände anschreibt, in Zeitungen inseriert, findet er Geschwister, Kinder und Neffen der Gefallenen und erzählt ihnen, was er weiß. Er merkt, dass es den Menschen unendlich viel bedeutet, Gewissheit zu haben. So schreibt ihm Bernard Harris Jr., Neffe des Piloten der „Towering Titan“, 2006: „Ich werde niemals in der Lage sein, dir wirklich für das zu danken, was du getan hast.“ Matthias Schildbach nennt es eine Frage des Anstands, sein Wissen mit den Angehörigen zu teilen, es nicht im Staub verkommen zu lassen in irgendeinem Schrank: „Es soll da hin, wo es hingehört.“

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Das Schicksal der Besatzung der B-17 „Towering Titan“

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Das Bomber-Puzzle aus der Heide